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Dirk Heißerer

Das kleine Weimar im Herzogpark

Im Münchener Herzogpark, wo er insgesamt 23 Jahre wohnte, fand Thomas Mann eine Literatenwelt, die sich mehrfach mit Goethes Weimar vergleichen lässt. Der fürstlich-repräsentative Name des Neubauviertels leitet sich ab von der Familie des Herzogs Max in Bayern (Vater der Kaiserin Elisabeth von Österreich), die das Auwaldgelände an der Isar 1900 an eine Terraingesellschaft verkaufte. Das stattliche Wohnhaus Thomas Manns an der Poschingerstraße 1 (benannt 1906 nach dem wohltätigen Gutsbesitzer und Glasfabrikanten Michael von Poschinger) wurde ab 1914 zur ersten Adresse des literarischen München, erst recht während der Weimarer Republik, und nahm „auf eigene Art“ (Thomas Mann) die Tradition Goethes und seines Hauses am Frauenplan in Weimar wieder auf.   

Den literarischen Anspruch des Herzogparks verstärken bis heute die vielen Dichterstraßen. Auf seinen Spaziergängen sinniert der autobiographisch kaum verhüllte Erzähler in Herr und Hund, „welcher Schöngeist von Spekulant“ sie benannt habe: „Da ist eine Gellert-, eine Opitz-, eine Fleming-, eine Bürger-Straße“ (in deren Nr. 9 Peter de Mendelssohn (1908-1982), Thomas Manns erster Biograph, 1980 für seine beiden letzten Lebensjahre einzog, nachdem er seit 1971 im kleinen weißen Haus an der Rümelinstraße 10 zusammen mit seiner Lebensgefährtin Anita Naef (1925-2000) an seiner großen Studie gearbeitet hatte) „und“, so fährt der Erzähler fort, „sogar eine Adalbert-Stifter-Straße ist da“, auf der er sich, mit Blick auf die grandiosen Landschaftsschilderungen Stifters, „mit besonders sympathischer Andacht“ ergehe. Die von Thomas Mann so bravourös aus nur drei Buchstaben eines verwitterten Straßenschildes identifizierte „Shakespeare-Straße“ fand sich freilich schon damals nicht im Herzogpark, dafür liegt in Bogenhausen seit 1964 der Shakespeareplatz standesgemäß in der Nähe des Prinzregententheaters.

Illustre Nachbarschaft

Das „kleine Weimar“ im Münchener Herzogpark versammelte mit Thomas Mann befreundete oder gut bekannte Dichter, Musiker und Wissenschaftler. Im Haus Mauerkircherstraße 13, wo die Familie Mann seit Anfang Oktober 1910 im zweiten Stock gleich zwei Wohnungen zusammen mietete, entstand die Novelle Der Tod in Venedig (1912), deren Held Gustav von Aschenbach auch Züge des Wiener Komponisten Gustav Mahler (1860-1911) trägt. Der war, wie sich Katia Mann erinnert, sogar einmal in der früheren Wohnung der Manns, an der Franz-Joseph-Straße 2/III (1905-1910), zum Tee geladen: „Er war so komisch steif. Ich sagte ihm: Ich sollte Ihnen auch herzliche Grüße von meinen Eltern ausrichten. Worauf er sagte: Bitte, erwidern Sie dieselben. Das ist mir unvergeßlich.“ In München feierte Gustav Mahler durch seinen Freund, den Dirigenten und Generalmusikdirektor Bruno Walter (1876-1962) erste große Erfolge, und so passte es ganz gut, dass Bruno Walter mit seiner Familie 1913 in die Mauerkircherstraße 43 zog, in das äußere Haus des Dreispänners Nummer 39 bis 43. Zudem wurde noch im selben Jahr der Komponist Walter Courvoisier (1875-1931) Wohnungsnachbar der Manns im dritten Stock der Mauerkircherstraße 13. Die Oper Lancelot und Elaine (1917) entstand damals, wie sich Thomas Mann erinnert, „in der Mauerkircherstraße über unseren Köpfen“. Ein Stockwerk tiefer schrieb er selbst an den ersten Kapiteln des Romans Der Zauberberg“ (1924).

Kurz vor dem Einzug der Manns im Oktober 1910 in das Haus Mauerkircherstraße 13 baute der zu sagenhaftem Reichtum gekommene Dichter Alfred Walter Heymel (1878-1914), genannt „Prinz Kuckuck“, Begründer der Zeitschrift und des Verlags Die Insel (1899-1902, Leopoldstraße 4, am Siegestor), an der Poschingerstraße 5 eine Villa, in der seit 1952 das renommierte Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung residiert. Ob sich Thomas Mann von diesem Kollegen-Vorbild für sein eigenes Haus an der Poschingerstraße 1 anregen ließ, kann freilich nur vermutet werden. Direkter Nachbar im heute noch bestehenden Haus an der Poschingerstraße 2 und Verkäufer des Eckgrundstücks an die Manns war jedenfalls Ludwig Freiherr von Gumppenberg-Pöttmes-Oberbrennberg (1848-1921) aus eben demjenigen bayerischen Adelsgeschlecht, nach dem nicht nur 1908 eine Straße im Herzogpark benannt wurde, sondern dem auch der Dichter, Theaterkritiker und Parodist Hanns von Gumppenberg (1866-1928) entstammte, der wiederum im April 1901 das Kabarett der Elf Scharfrichter mitbegründete und am 20. November 1901 die erste Kritik einer Lesung Thomas Manns in den Münchner Neuesten Nachrichten veröffentlichte. Die Tochter des Barons, Elisabeth Gräfin von Holnstein aus Bayern (1877-1933)  lebte mit ihrem Mann, dem Grafen Ludwig von Holnstein aus Bayern (1873-1950), seit 1909 in einer eigenen Villa an der Pienzenauerstraße 21, heute Neubau), in späterer direkter Zaunnachbarschaft zu den Manns. 

Nachfolger von Bruno Walter, der 1925 mit seiner Familie nach Berlin zog, im Haus Mauerkircherstraße 43 wurde der ebenfalls mit Thomas Mann befreundete Schriftsteller Bruno Frank (1887-1945) mit seiner Frau Elisabeth (genannt Liesl) (1903-1979), der Tochter der Operetten- und Chanson-Sängerin Fritzi Massary. Bruno Frank hatte vorher lange Jahre in Feldafing am Starnberger See gewohnt und war in den Jahren 1919 bis 1923 wiederholt zu Gast im dortigen Schreibhaus Thomas Manns, seinem „Villino“. Bruno Frank half Thomas Mann bei den französischen Passagen im Walpurgisnacht“-Abschnitt des Zauberberg; dafür setzte sich Thomas Mann für Franks Politische Novelle (1928), die vor der Gefahr einer neuen Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich warnte und reaktionäre Ressentiments weckte, entschieden ein. Im kalifornischen Exil trafen die Manns mit den beiden „Brunonen“, wie Katia Mann sie nannte, wieder zusammen. Bruno Franks Witwe Liesl heiratete später noch zweimal und zog sogar in den Herzogpark zurück. Dort lebte sie zuletzt mit ihrem dritten Mann, dem Filmautor Jan Lustig (1902-1979) im Neubau an der Mauerkircherstraße 84.

Auch der Schriftsteller Alfred Neumann (1895-1952) gehörte zum Freundeskreis Thomas Manns und war mit seiner Frau Katharina, genannt Kitty (1903-1973), der Tochter des Münchener Verlegers Georg Müller, seit 1924 Nachbar im nahe gelegenen Haus Felix-Dahn-Straße 6; Neumanns folgten Thomas Mann ebenfalls ins kalifornische Exil. Nicht vergessen sei der Bonner Germanist Professor Berthold Litzmann (1857-1926), der 1919 die Verleihung des Ehrendoktors der Universität Bonn an Thomas Mann befürwortet hatte. Er zog nach seiner Emeritierung mit seiner Frau Grete (1875-?), einer Erzählerin, Dramatikerin und Übersetzerin, in das Haus Pienzenauerstraße 50.

Um die botanischen Einzelheiten in Herr und Hund richtig schildern zu können, bat der Autor einen kundigen direkten Nachbarn im Haus Pienzenauerstraße 32 (heute Neubau) um Hilfe. Der Doktor der Medizin und Privatdozent (ab 1921 Professor) für Biologie und Zoologie an der Technischen Hochschule Karl Gruber (1881-1927) benannte Thomas Mann freilich nicht nur die einzelnen Pflanzen und Bäume. Der engagierte Sportler, Ski- und Hochgebirgs-Pionier war zugleich Tierpsychologe, der schon 1914 eine Untersuchung über „Denkende Tiere“ in der Münchener medizinischen Wochenschrift veröffentlichte. Als rechte Hand des Arztes und Parapsychologen Dr. Albert Freiherr von Schrenck-Notzing (1862-1929) veröffentlichte Gruber zudem lesenswerte Studien über Parapsychologische Erkenntnisse (1924) und vermittelte ziemlich sicher die Besuche Thomas Mann im Hause Schrenck-Notzings an der Max-Josef-Straße 3 (heute 9, Bayerischer Bauernverband), die der Dichter in drei Berichten über Okkulte Erlebnisse (1923) packend geschildert hat; auch die Geistersitzung des Abschnitts „Fragwürdigstes“ am Ende des Zauberberg verdankt sich den Gruber-Schrenck-Notzing’schen Einflüssen. Und sogar noch die auf den ersten Blick merkwürdigen Experimente von Thomas Manns Tochter Elisabeth Mann Borgese (1918-2002) mit Schreibmaschine schreibenden und auf besonderen Klavieren musizierenden Hunden lassen sich direkt auf die Einflüsse durch Karl Gruber zurückführen.  

Kinderspiele

Die Kinder der Manns öffneten weitere Häuser in der Nachbarschaft. Zu den engsten Jugendfreunden der beiden Ältesten Erika (1905-1969) und Klaus (1906-1949) gehörte Richard, genannt „Ricki“ Hallgarten (1905-1932), der erste von zwei Söhnen des doppelt promovierten Juristen und Germanisten Robert Hallgarten (1870-1924) und seiner Frau, der späteren Pazifistin und Frauenrechtlerin Constanze (1881-1969) im Haus von 1910 an der Pienzenauerstraße 15 (heute Ukrainische Freie Universität). Ricki schrieb mit Erika das Weihnachtsmärchen Jan’s Wunderhündchen (1931) und illustrierte das erste Kinderbuch Erikas, Stoffel fliegt übers Meer (1932), die Reise des kleinen Stoffel als blinder Passagier mit dem Zeppelin nach Amerika. Das gastfreundliche Haus der Hallgartens war eine erste Adresse im kulturellen München. Rickis Bruder, der später als Politikwissenschaftler bekannt gewordene George W. Hallgarten (1901-1975), hat dazu anschauliche Erinnerungen überliefert.

Weitere Freunde der Mann-Kinder waren die Töchter Lotte (1903-1970) und Grete (1906-1939) des Generalmusikdirektors Bruno Walter. Gleich neben Walters, im Mittelhaus Mauerkircherstraße 41, lebte die Familie des Universitäts-Professors Geheimrat Erich Marcks (1861-1938), als Historiker und Bismarck-Kenner eine Kapazität, dessen Tochter Gerta ebenfalls zur Freundesschar der Mann-Kinder gehörte. Zusammen gründeten diese Jugendlichen 1919 eine ambitionierte Schauspieltruppe, den Laienbund Deutscher Mimiker. Der Laienbund führte in den Wohnzimmern und Gärten der befreundeten Nachbarn Stücke von Theodor Körner bis William Shakespeare auf und war dabei, besonders für die herausragende schauspielerische Begabung Erika Manns, eine regelrechte Talentschmiede. Rechnet man noch den seinerzeit berühmten Schauspieler Gustl Waldau (eigtl. Gustav Freiherr von Rummel, 1871-1958) und seine Frau Hertha von Hagen (1876-1963) neben Marcks’ im Haus Mauerkircherstraße 39 dazu, hatte der Laienbund auf jeden Fall ein besonders aufmerksames künstlerisches Umfeld.

Eng befreundet waren sowohl die Eltern als auch die Kinder Mann mit der Witwe Tilly (1885-1970) und den Töchtern des Dramatikers Frank Wedekind (1864-1918), im etwas entfernten Haus Prinzregentenstraße 50. Wedekinds zweite Tochter Kadidja (1911-1994) erinnert sich, dass sie auf den ungeliebten Sonntagnachmittags-Spaziergängen an der Isar entlang „vor einer eleganten Villa einigen finsterblickenden, etwas verwahrlosten Kindern“ begegneten, von denen es nur raunend hieß, das seien „’Thomas Manns’“. Wedekinds älteste Tochter Pamela (1906-1986) und Klaus Mann gingen 1924, mit achtzehn Jahren, sogar eine kurzzeitige Verlobung ein.

Somit war spätestens im Herbst 1929, als Thomas Mann den Nobelpreis für Literatur erhielt, aus dem Herzogpark ein kleines Weimar bereits von zwei Generationen geworden. Das erkannte Gottfried Benn, der „nihilistische Dandy“ (Kadidja Wedekind), als er im Goethe-Jahr 1932 sein Buch Nach dem Nihilismus mit der ironischen Widmung für den Sohn des Hauses versah: „Herrn Klaus Mann, / dem Bewohner, der Figur, dem / Mitträger des Hauses am Frauen= / plan Nr 2 redivivus: Poschinger= / str. 2 [!] München - / mit freundschaftlichem Gruss. /  3.XI.32. Gottfried Benn.“ Diese noch in Spott und Hohn anerkannte Repräsentanz war am 11. Februar 1933 zu Ende. Die Abfahrt zur Wagner-Reise nach Amsterdam, Brüssel und Paris führte Thomas Mann und die Seinen unvermutet in ein 16-jähriges Exil. Doch das „kleine Weimar“ aus dem Münchener Herzogpark fand bald darauf allen Gewalten zum Trotz als „New Weimar“ unter den Palmen Kaliforniens wieder zusammen.

Literatur

Gumprecht, Holger: „New Weimar“ unter Palmen. Deutsche Schriftsteller im Exil in Los Angeles. Berlin, Aufbau Taschenbuch Verlag, 1998.

Heißerer, Dirk (Hrsg.): Thomas-Mann-Schriftenreihe, Bd. 4, München, Anja Gärtig Verlag (peniope), 2004.

Heißerer, Dirk: Im Zaubergarten. Thomas Mann in Bayern. München, C. H. Beck Verlag, 2005.

Abbildung:

George W. Hallgarten: Lageplan wichtiger Häuser im Münchener Herzogpark, eigenhändige Zeichnung. Beilage zum Typoskript „My recollections of Thomas Mann’s and his family’s life in Europe“ (vor 1945) für Caroline Newton. Quelle: Princeton University Library. Abb. nach dem Abdruck der kommentierten Übersetzung in: Dirk Heißerer (Hrsg.): Thomas-Mann-Schriftenreihe, Bd. 4, München 2004, S. 132. Zu dem sog. „Dreispänner“ an der Mauerkircherstraße (o. r.): Bruno Walter wohnte in Nr. 43, Erich Marcks in Nr. 41; Bruno Frank, auf Nr. 39 angegeben, war 1925 Wohnungsnachfolger von Bruno Walter; auf Nr. 39 wohnte der Schauspieler Gustl Waldau. Mit dem „painter Bunzl“ (u. r.) ist Dr. Rudolf Bunzel (1861-?) in der Pienzenauerstraße 2/III gemeint, der vermutlich im „Tod in Venedig“ einen kurzen Auftritt hat. Gleich daneben ist Thomas Manns erste Adresse im Herzogpark, Mauerkircherstraße 13/II, angezeigt. Der „usual walk“ Thomas Manns mit dem Hund Bauschan ging Hallgartens Skizze zufolge offenbar einmal um sein Grundstück herum; das Haus des Freiherrn von Gumppenberg an der Poschingerstraße 2 steht noch heute.

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