Prof. Dr. Andreas Heldrich
Einweihung der Thomas-Mann-Halle in der LMU
am 26. September 2002


Am nächsten Dienstag erhält die Ludwig-Maximilians-Universität einen neuen Rektor. In Amerika hat ein demnächst aus seinem Amt scheidender Präsident den Titel „lame duck president“. Was Sie jetzt zu hören bekommen, ist also an sich nur der Schwanengesang einer lahmen Ente.

Zum Glück habe ich aber den Verfall meiner Kräfte lange vorhergesehen. Die Verbindung des Thomas-Mann-Förderkreises mit der Universität München ist rechtzeitig in trockene Tücher gebracht worden. Die Hochschulleitung hat schon vor mehreren Monaten die Umbenennung unserer ehemaligen „Halle Nord“ in Thomas-Mann-Halle beschlossen. In unserem Senat ist diese Entscheidung einhellig begrüßt worden. Die Mitglieder des Förderkreises finden also bei uns offene Türen. Ich heiße Sie alle herzlich bei uns willkommen.

Es tut mir Leid, dass dieser Empfang nicht ganz standesgemäß ist. Der Nordostflügel unseres Hauptgebäudes, zu dem diese Halle das Scharnierstück bildet, wird derzeit in einen Bücherturm umgebaut. Er soll die Bibliothek der Katholischen und der Evangelischen Theologie und der Philosophie unter einem Dach vereinen. Davon versprechen wir uns Raumgewinn und Einsparung von Personal- und Sachausgaben. Das Hauptmotiv ist aber die Bündelung geistiger Kräfte, die den lange getrennten Fächern neuen Auftrieb bringen soll. Die Universität München wird in Zukunft auch ein Zentrum der Ökumeneforschung sein.

Der Schönheit der neuen Thomas-Mann-Halle tut es allerdings vorübergehend ein wenig Abbruch, dass wir sie eine Zeit lang als Lagerraum für die Bauarbeiten benötigen. Aber spätestens in zwei Jahren wird sie in neuem Glanz erstrahlen. Dazu trägt natürlich auch die schöne Büste nicht wenig bei, die wir gleich enthüllen werden. (Ich danke unserer Zentralwerkstatt für den schönen Sockel.) Wenigstens die Weichen sind damit richtig gestellt. Thomas Mann wird von nun an einen unverrückbaren Platz in der geistigen Mitte unserer Universität haben.

Ich bin dankbar, dass ich dafür noch in meinem Rektorat sorgen konnte. Denn der Bezug zu Thomas Mann war bisher noch eine Art „missing link“ bei unserer Identitätsfindung. Zwar hat sein Werk naturgemäß seit jeher eine zentrale Rolle in der wissenschaftlichen Arbeit unserer Germanistik gespielt. Unzählige Vorlesungsstunden und Seminare waren und sind ihm gewidmet. Aber die persönlichen Verbindungen zwischen Thomas Mann und unserer Universität sind dabei allenfalls gestreift worden.

Auch dazu wäre aber einiges zu sagen. Thomas Mann hat fast 40 Jahre in München gelebt, darunter die längste Zeit in unserer unmittelbaren Nachbarschaft in Schwabing. Zwar hat er sich in einer Art Geschmacksverirrung als Student nicht bei uns, sondern am damaligen Polytechnikum, dem Vorläufer der heutigen Technischen Universität (TUM) eingeschrieben. Ausschlaggebend für diesen Fehltritt war aber wohl die Tatsache, dass er in einem frühen Anflug von Selbstbewusstsein auf die Ablegung des Abiturs verzichtet hatte. Ohne Reifezeugnis hätte er sich bei uns nicht einschreiben können.

Mit seinem schriftstellerischen Erfolg fand er aber schnell Zugang zu jener gesellschaftlichen Oberschicht, zu der damals auch die handverlesene kleine Zahl unserer Professoren gehörte. Symptomatisch, wenn auch sicher nicht in jeder Hinsicht repräsentativ für deren Lebensumstände war das Palais des Mathematikers Alfred Pringsheim in der Arcisstraße 12, das „ein gesellschaftlicher und kultureller Brennpunkt München um die Jahrhundertwende“ war. Fast alle großen Künstler der damaligen Zeit waren dort zu Gast, von Richard Strauss und Hugo v. Hofmannsthal über Kaulbach, Lenbach und Stuck bis zu Bruno Walter. Allein der Musiksaal mit dem Bilderfries von Hans Thoma maß 65 qm, genauso groß waren der Speisesaal und die Bibliothek.

Thomas Mann wurde im Frühjahr 1903 in das Haus Pringsheim eingeführt. Über seine Eindrücke berichtet er in einem Brief an seinen Bruder Heinrich vom 27.2.1904. Darin heißt es: „Pringsheims sind ein Erlebnis, das mich ausfüllt. Tiergarten mit echter Kultur. Der Vater Universitätsprofessor mit goldener Cigarettendose, die Mutter eine Lenbach-Schönheit, der jüngste Sohn Musiker, seine Zwillingsschwester Katja (sie heisst Katja) ein Wunder, etwas unbeschreiblich Seltenes und Kostbares, ein Geschöpf, das durch sein blosses Dasein die kulturelle Thätigkeit von 15 Schriftstellern oder 30 Malern aufwiegt … Eines Tages fand ich mich im italienischen Renaissance-Salon mit den Gobelins, den Lenbachs, der Thürumrahmung aus giallo antico und nahm eine Einladung zum grossen Hausball entgegen. Er war am nächsten Abend. 150 Leute, Litteratur und Kunst. Im Tanzsaal ein unsäglich schöner Fries von Hans Thoma … Nach acht Tagen war ich wieder dort, zum Thee … Ich durfte noch einmal in Ruhe den Thomaschen Fries betrachten…“. Und dann der schockierende Satz: „Kein Gedanke an Judenthum kommt auf, diesen Leuten gegenüber; man spürt nichts als Kultur.“

Soweit die Erlebnis- und Gedankenwelt des 28-jährigen Thomas Mann. Das Haus Pringsheim wurde 1933 abgerissen, um den Führerbauten Platz zu machen. Aber all dies wissen Sie natürlich besser als ich.

Vielleicht über die familiäre Verbindung mit seinem Schwiegervater fand Thomas Mann auch in der Folgezeit öfters den Weg in die Universität. Er unterhielt enge Kontakte zum Seminar von Prof. Arthur Kutscher. Zur Feier seines 50. Geburtstags im Jahr 1925 hielten die Professoren Franz Muncker und Fritz Strich Festvorträge. Am 16. Mai 1929 sprach er selbst in unserem Audimax über „Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte“. Am 7. Juli 1930 und am 5. Juli 1931 las er in der Universität aus seinem Joseph-Roman. Im Goethe-Jahr 1932 hielt er am 8. Juni im Audimax den Vortrag „Goethes Laufbahn als Schriftsteller“. Und schließlich am 10. Februar 1933 beendete er seine Münchener Jahre wiederum im Audimax mit dem berühmten Vortrag über „Leiden und Größe Richard Wagners“. Am folgenden Tag brach er zu einer Vortragsreise nach Amsterdam, Brüssel und Paris auf, von der er nicht mehr zurückkehren sollte.

Einen unrühmlichen Beitrag dazu leisteten auch einige Professoren unserer Universität, die den schändlichen Protest der „Richard-Wagner-Stadt München“ in den Münchener Neuesten Nachrichten vom 16. April 1933 just gegen diesen letzten Vortrag mit unterzeichneten. Zu ihnen gehörte nicht nur der damalige Rektor Reinhard Demoll, sondern auch der Physiker Walther Gerlach, der nach dem Krieg einmal das Rektorat bekleidet hat. Zu den Unterzeichnern zählte ferner der Präsident der benachbarten Akademie der Bildenden Künste, der Architekt German Bestelmeyer, nach dessen Plänen in den 20er Jahren der Erweiterungsbau unseres Hauptgebäudes mitsamt Audimax und Aula aufgeführt wurde.

Wie man sieht, gab es mannigfache Beziehungen zwischen Thomas Mann und der Universität München - im Guten, leider aber auch im Bösen. Es ist höchste Zeit, sich dieses lange vernachlässigten Themas einmal anzunehmen. Ich danke dem Thomas-Mann-Förderkreis, dass er die Initiative dazu ergriffen hat. Lassen Sie uns gemeinsam das Versäumte nachholen. Vielleicht können wir uns dabei auch mit dem Monacensia Literaturarchiv verbünden, das - wie ich heute morgen von der Kulturreferentin Lydia Hartl erfahren habe - über einen sehr umfangreichen Nachlass der Familie Mann verfügt. Anscheinend sucht die Monacensia wissenschaftlichen Beistand bei der Auswertung bislang eher in Frankfurt als an der Ludwig-Maximilians-Universität. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies mit fachlichen Defiziten oder Interesselosigkeit der Münchener Germanistik zu tun hat. Aber ein Urteil darüber kann ich mir nicht anmaßen.

Lassen Sie mich deshalb abschließend noch einen anderen Aspekt ansprechen. Die Erinnerung an den Widerstandskreis der Weißen Rose gehört heute zum geistigen Profil unserer Universität. Zwar sind wir uns bewusst, dass die Gleichschaltung der deutschen Hochschulen durch die nationalsozialistische Diktatur gerade in der Hauptstadt der Bewegung keine Ausnahme duldete. Der totalitäre Ungeist hatte auch die Universität München fest im Griff. Aber nicht alle sind ihm erlegen. Eine kleine Zahl unserer Studenten und einer unserer Professoren wagten damals in unserer Universität den Aufstand gegen das Verbrecherregime. Thomas Mann hat ihren Mut in einer Rundfunkbotschaft aus dem kalifornischen Exil gewürdigt.

Wir pflegen die Erinnerung an den Widerstand der Weißen Rose in der Denkstätte am Rand unseres Lichthofs. Die neue Thomas-Mann-Halle bildet dazu die passende Ergänzung. In Zukunft wird die Stimme des Gewissens an zwei verschiedenen Standorten in unserem Hauptgebäude zu vernehmen sein. Damit stellen wir uns einem hohen Anspruch. Hoffentlich können wir ihm immer gerecht werden.